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Da Gernot Lennert bereits die Hintergründe des Krieges in der Ukraine beleuchtet hat, will ich darauf nun nicht mehr eingehen.
Mein Thema sind die Kriegsdienstverweigerer, die Deserteure und die Frage: Können sie Asyl erhalten?In jedem Krieg betrachten die Herrschenden, insbesondere die männliche Bevölkerung, als Verfügungsmasse, als Waffen, die sie bedenkenlos ins Verderben schicken können. Und wer nicht mitmachen möchte, gilt da schnell als Vaterlandsverräter. So ist es auch jetzt in den am Ukraine-Krieg beteiligten Staaten.
Eigentlich sollte das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung sie gerade davor schützen. Und da ist es angesichts der flammenden Kriegsappelle erstmals erstaunlich, dass es dieses Recht sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt, auch wenn das kaum jemand weiß.
Aber wie sieht es in der Praxis aus? In Russland muss ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung sechs Monate vor der Einberufung gestellt werden. Und in der Ukraine können ihn lediglich Angehörige von 10 kleinen religiösen Sekten stellen, wie etwa die Zeugen Jehovas oder von Hare Krishna. In Russland werden praktisch alle Anträge abgelehnt, in der Ukraine können sie erst gar nicht gestellt werden.
Aber für unsere Arbeit entscheidend ist die Antwort auf die Frage: Und wie ist es bei den Soldaten? Da sind sich beide Staaten einig: Wer einberufen ist, wer Soldat ist, hat kein Recht einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen.
Aber es gibt sie, die Menschen, die den Krieg nicht unterstützen möchten, nicht nur den Angriffskrieg, sondern auch den der Verteidigung, denn auch der ist mit Bestialitäten, Kriegsverbrechen jeder Art unweigerlich verbunden.
Russland setzt in diesem Krieg nach eigenen Angaben ausschließlich Berufssoldaten, Freiwillige und Söldner ein. Aber da es offensichtlich mit der Abkommandierung in den Krieg Schwierigkeiten gibt - die Rekruten haben ja bestimmt kein gesteigertes Interesse daran - ist man schon von Anfang an dazu übergegangen Wehrpflichtige zu einer Unterschrift als Berufssoldat zu zwingen und sie über den Einsatzort im Unklaren zu lassen. Man sagte ihnen, sie würden im Zug zu einem Manöver fahren – und fanden sich in der Ukraine wieder. Wer trotz Zwang die Unterschrift verweigerte, wurde trotzdem an die Front verfrachtet.
Der schnelle Sieg im Krieg lässt auf sich warten. Die Armee kam einfach nicht voran. Viele Fahrzeuge hatten plötzlich Motorschaden, die Reifen waren platt, Raketen landeten zuhauf im freien Feld… Meines Erachtens deutet das nicht nur auf technische Probleme hin, sondern auch auf mangelnde Motivation, auf Meuterei und Sabotage. Wenn es in diesem Krieg Helden gibt, dann sind es diese Soldaten, die unter Lebensgefahr den Krieg verunmöglichen.
Russland gibt die Zahl der bis 25. März getöteten eigenen Soldaten mit 1.351 an, die ukrainische Seite spricht von 18.000 gegnerischen Opfern, die NATO von bis zu 40.000. Nach Zeitungsangaben verspricht Russland den Angehörigen für jeden Getöteten 100.000 Euro. An Geld scheint es also nicht zu mangeln. Auch nicht in der Ukraine, wo man jedem Überläufer 40.000 Euro anbietet.
Wir sind in Kontakt mit verschiedenen Beratungsorganisationen für Kriegsdienstverweigerer und Soldaten in verschiedenen Städten Russlands. Sie berichten, dass sie derzeit noch arbeiten können, wenngleich weitgehend im Verborgenen, und in den Sozialen Medien. So rufen die Soldatenmütter St. Petersburg insbesondere die Eltern von Soldaten auf, sich zu erkundigen, wo sich ihre Kinder befinden, und sie aus der Ukraine zurückzuholen. Manchmal klappt das auch. Und auch für Kriegsdienstverweigerer gibt es immer noch legale Möglichkeiten, den Dienstantritt zumindest hinauszuzögern.
In der Ukraine gab es mit der Einführung der Wehrpflicht 2015 sehr großen Widerstand dagegen. Alljährlich entzogen sich Tausende. Deshalb gingen die Einberufungsbehörden immer mehr dazu über Razzien durchzuführen, die Jugendlichen zu entführen, und haben zu diesem Zweck extra Disziplinarbataillone eingerichtet.
Seit Einführung der Wehrpflicht wurden weit über 10.000 Strafverfahren wegen Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Fahnenflucht, Desertion, Selbstverstümmelung usw. eingeleitet. Und jetzt mit dem Krieg wurde für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren eine rechtswidrige Ausreisesperre verhängt. Auch wenn die Anzahl der Kriegsverbrechen auf russischer Seite überwiegt, begeht auch die ukrainische Seite welche. So sind z.B. Fotos von gefesselten russischen Soldaten aufgetaucht, die erschossen worden sind.Trotz der Kriegsbegeisterung in der Ukraine, und obwohl 90 Prozent der Bevölkerung vom „Sieg“ träumt, gibt es auch die, die daran kein Interesse haben, die sich und ihre Angehörigen schützen möchten, indem sie untertauchen und die Flucht wagen. Nach Angaben der ukrainischen Grenzbehörden wurden seit Beginn des Krieges 2.200 Männer an den Grenzen abgefangen. Nach Zeitungsangaben soll die Bestechungssumme an der Grenze aktuell bei 5000 Euro liegen. Auch gefälschte Geburtsurkunden können im Einzelfall hilfreich sein. Viele Kriegsdienstverweigerer sind schon vor der Ausreisesperre geflohen. Auch viele aus der schwulen und trans-Szene. Und es kehren auch viele, die im Westen Arbeit haben, nicht zurück. So sollen allein etwa 40.000 LKW-Fahrer aus der Ukraine hier im Einsatz sein. Da hat sich wohl nur ein sehr geringer Teil für den Kriegseinsatz begeistert.
Wir haben auch in die Ukraine gute Kontakte zu der dort bestehenden kleinen pazifistischen Organisation und tauschen uns laufend über die aktuellen Entwicklungen aus.
Und nun noch zu Weißrussland, ein Verbündeter Russlands. Dort haben gemeinsame Manöver stattgefunden, auf die dann nahtlos der Angriff auf die Ukraine folgte. Und um bei Anforderung die russischen Truppen unterstützen zu können hat Weißrussland umfangreiche Rekrutierungen begonnen. Dies haben oppositionelle weißrussische Frauen, die nach Litauen geflohen sind, spitz bekommen, und haben alle Männer zum Verlassen des Landes aufgefordert. Dieser Appell war durchaus erfolgreich: Innerhalb von 3 Wochen sind allein in Litauen bereits 3000 angekommen. Vermutlich hat dies auch dazu beigetragen, dass sich Weißrussland bislang noch nicht direkt am Krieg beteiligt.
Nun zur Frage des Asyls? Wer die entsprechenden Gesetzestexte liest, könnte meinen, dass es da kein Problem geben dürfte. Die Realität aber ist, dass Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren regelmäßig Asyl verweigert wird. Nun, wenn jemand einen schriftlichen Befehl mit dem Titel „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ oder „Begehung von Kriegsverbrechen“ bekommen würde und dann einen nicht stattgegebenen Widerspruch vorweisen könnte bzw. einen abgelehnten Antrag auf Kriegsdienstverweigerung, dann könnte es schon sein, dass er Asyl bekommen würde. Aber das gibt es in der Praxis nicht – und so müssen wir davon ausgehen, dass auch jetzt wieder viele in den Asylverfahren abgelehnt werden.
Nach der Annexion der Krim und dem Krieg in den Separatistengebieten sind Tausende ukrainische Wehrpflichtige auch nach Deutschland geflohen und haben Asyl beantragt. Bekommen haben sie es nicht – und so steht zu befürchten, dass sie nach dem Auslaufen der derzeit gültigen Aufnahmeregelung, wieder vor dieser Situation stehen.
Was macht Connection?1. Wir halten Kontakt in alle am Krieg beteiligten Staaten und unterstützen so gut wir können die Aktiven bzw. die Organisationen, auch finanziell.2. Wir diskutieren mit ihnen gemeinsame Initiativen und Hilfen, auch für jene, die die Länder verlassen möchten.3. Wir arbeiten daran, dass es in allen angrenzenden Ländern Empfangsstellen gibt, von Finnland bis Georgien.4. Wir haben eine Hotline für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure eingerichtet, die sich auf der Flucht befinden. Dort können sie erste Informationen in Russisch, Englisch und Deutsch erhalten.5. Wir arbeiten mit verschiedenen Initiativen zusammen, die Leute rausholen.6. Wir haben zusammen mit über 40 Organisationen Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Belarus und der Ukraine eingefordert, darunter ist ein Bischof der Evangelischen Kirche, Pax Christi, DFG-VK, IPPNW, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Pro Asyl und andere. Gemeinsam haben wir einen entsprechenden Antrag an den Deutschen Bundestag gestellt. Inzwischen gibt es auch einige Abgeordnete der FDP, der SPD und der Linken, die uns dabei unterstützen. Wir sind gerade dabei einen ähnlichen Antrag auch auf europäischer Ebene zu initiieren.Der auch in Russland sehr beliebte Schauspieler Arnold Schwarzenegger hat die Soldaten zur Desertion aufgefordert. Das tun wir nicht, denn auf Desertion stehen bis zu 10 Jahren Haft. Wir finden, das muss jede/r selbst entscheiden. Aber wir zeigen Wege auf, dem Verbrechen Krieg zu entkommen.
Aus Sicht der Kriegsherren sind die Soldaten Bauern im Schachspiel, über die nach Belieben verfügt werden darf. Kriegsdienstverweigerung und Desertion dagegen sind ein Akt der Selbstbestimmung und der Humanität. Sie sind geeignet Sand im Getriebe des Krieges zu sein.
Krieg ist ein Verbrechen. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure brauchen Asyl.