Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen Landesverband Hessen

Demokratie und Menschenrechte 1848 und heute

von Thomas Carl Schwoerer

Vortrag in Neu-Isenburg am Sonntag, 17. Dezember 2023

16 Uhr im Haus zum Löwen, Löwengasse 24

 


Lieber Gene,

ganz vielen Dank für deine Begrüßung. Neu-Isenburg kann sich glücklich schätzen, einen Bürgermeister für den Frieden wie dich zu haben, der sich die Zeit nimmt für Veranstaltungen, die über den lokalen Rahmen hinaus globale Fragen thematisieren.

 

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

ich beschreibe zunächst die längerfristigen Folgen der Revolution von 1848 und ihre Parallelen zu unserer heutigen Zeit. Danach versuche ich Lösungswege für Probleme der Gegenwart vorzustellen.

1848 war die einzige gesamteuropäische Revolution der Geschichte. Sie nahm ihren Ausgang am 22. Februar in Paris, der geistigen Hauptstadt Europas laut Heinrich Heine. Schon am 24. Februar gehört die Metropole den Aufständischen, am selben Tag dankt der König ab. Der Freiheitsschub geht anschließend durchs gesamte Europa, an zahlreichen Orten kommt es zu Aufständen und Revolutionen. Machen wir uns klar, wie europäisch die Menschen damals empfunden haben, mehr als heute. Erst nachträglich ist die Erinnerung an 1848 nationalisiert worden. Heute sollten wir gegen den Strich des Nationalismus als eine der gefährlichsten Ideologien unserer Zeit denken. Dabei kann uns 1848 helfen.

Die Revolutionäre versuchten, den Traum von der universellen Emanzipation umzusetzen: die Emanzipation, ja, der Nation von ausländischer Herrschaft, die Emanzipation der Juden, Roma, Frauen und versklavten Afrikaner und die Emanzipation der Bauern von feudalen Bindungen. Zumeist blieb diese Emanzipation allerdings eine Forderung.

Die Triebkräfte der Revolution waren ähnliche Entwicklungen wie heute: Eine Wirtschaftskrise mit hoher Inflation, neue Medien, die das Geschehen vorantrieben und das Bewusstsein der Menschen, in einer Umbruchszeit zu leben. Es braute sich etwas zusammen aus Bevölkerungswachstum, Missernten, Hunger, Not, Vorboten der Industrialisierung und eines zutiefst inkompetenten Obrigkeitsstaates, der die Armen fürchtete, statt ihnen zu helfen. All das erzeugte ein Gefühl der Unruhe, des bedrohlichen Wandels oder schlichter Wut, das sich 1848 entlud.

Auch heute kommen soziale Statusverluste oder Verarmung häufig vor. In naher Zukunft umso mehr, sollte die Forderung des Ressortleiters Politik in der FAZ vom 7. Dezember Realität werden, dass wir bald zwischen Sozialstaat und Rüstungsausgaben wählen müssten. Gesellschaftliche Probleme wie knapper Wohnraum, die Zerstörung der Natur oder der Verfall öffentlicher Infrastruktur in Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern prägen das allgemeine Bewusstsein.

Immer mehr Menschen sind deshalb nicht mehr bereit mitzumachen, leisten teilweise auch zivilen Ungehorsam. Parlamentsmitgliedern wird viel weniger Respekt entgegengebracht als früher. Überall auf der Welt sind heute demokratische Strukturen fragil und gefährdet. 1848 lehrt uns, dass wir trotz alledem die freiheitliche Demokratie und die Menschenrechte aktiv bewahren und immer wieder neu erkämpfen müssen.

Was hat die Revolution von 1848 bewirkt? Die Welt nach 1848 ist eine ganz andere als die Welt davor. Vorher gab es noch viele Konservative, die beispielsweise gesagt haben, eine Verfassung sei eine satanische Störung der Geistesehe zwischen dem Monarchen und dem Volk. So ein Wisch Papier dürfe nicht zwischen den König und sein Volk kommen, sagte Friedrich Wilhelm IV. Plötzlich ist dieses Argument absolut von gestern. Konservative haben akzeptiert, dass Staaten Verfassungen haben müssen. Deutschland war nach der Revolution 1849 bis zum Zerfall der Nationalversammlung ein Verfassungsstaat, wenn auch weiterhin ein Obrigkeitsstaat.

Die in den Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland formulierten Grundrechte fußen auf der Verfassung von 1849. Alles, was die Radikalen damals forderten – allgemeines Wahlrecht, Menschen- und Bürgerrechte, die politische Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit –, ist heute Wirklichkeit geworden oder steht nach wie vor zur Debatte.

 
Die meisten standesherrlichen Sonderrechte blieben abgeschafft. Ebenso wurden die Gleichstellung der Religionen, die Gewissens- und Religionsfreiheit bewahrt. Das Rechtswesen ist deutlich liberaler, die Gerichtsbarkeit dem Zugriff des Adels weitgehend entzogen.

Eine zentrale Rolle spielten damals wie heute Emotionen und Stimmungen.
Viele Menschen hatten plötzlich keine Angst mehr. Von dem Moment an wurde die Gesellschaft für den Staat gefährlich. Andererseits führte Angst zum Scheitern - die Angst der Linken vor Verrat, vor allem aber die Angst der bürgerlichen Liberalen vor Radikalen wie Friedrich Hecker. Diese Angst hatte zur Folge, dass die Liberalen schnell wieder zurück zu den traditionellen Autoritäten tendierten, sobald das Schreckgespenst von Massengewalt drohte.
 

Heute ist die Emotionalisierung des Diskurses mit der damit einhergehenden Rigorosität und Einteilung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß eher ein Problem – sei es beim diffamierenden Umgang mit Pazifisten seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, sei es zum Nahost-Krieg.
 

Das gilt auch für den Qualitätsjournalismus. Für diesen sollte die Maxime gelten: Die Komplexität von sozialen Ereignissen und Entwicklungen ist ernst zu nehmen. Diese müssen analysiert und durchdrungen werden, bevor man sie bewertet. Leider tut sich der Journalismus gegenwärtig sehr schwer damit. Die heutigen Tendenzen der Personalisierung, Vereinfachung und Moralisierung in der medialen Berichterstattung und des Haltungs- und Kampagnenjournalismus schaden dem demokratischen Meinungsbildungsprozess.

Meine Damen und Herren, vor einer Woche, am 10. Dezember, hat sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum 75. Mal gejährt.
Diese Erklärung fixiert universell vereinbarte und gültige Werte und Normen, die die weltweite und umfassendere Version der Grundrechte von 1848 darstellen.
1848 lehrt, dass Menschenrechte nie geschenkt, sondern stets erkämpft werden.

Die Erklärung der Menschenrechte von 1948 bilanziert die Geschichte der modernen Revolutionen. In diesen kämpfen die Leute immer, um ihr konkretes Leben zu verbessern. Sie berufen sich dabei aufs Menschenrecht und machen dadurch ihren besonderen Fall politisch zum Anliegen aller.
 
Artikel 28 der Menschenrechtserklärung hält den Anspruch eines jeden auf eine solche soziale und internationale Ordnung fest, in der die proklamierten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Die Menschenrechte brauchen also das materielle Fundament. Deshalb gibt es die kollektiven Menschenrechte auf Entwicklung und Gesundheit, die von den Ländern des Globalen Südens vorangetrieben wurden. Erst die Einheit der wirtschaftlichen und sozialen Gleichheits- und der individuellen Freiheitsrechte, wie sie eine UN-Konferenz 1993 bekräftigt hat, ermöglicht es, die Menschenrechte als einen emanzipatorischen Bezugsrahmen wahrzunehmen. Sie erschwert eine Kooptierung der Menschrechte durch eine „wertebasierte“, auch deutsche Außenpolitik, wenn diese nur eine diskursiv getarnte Machtpolitik ist.
 
Demokratie, Freiheit und Menschenrechte wurden in der Erklärung von 1948 versprochen, aber es gab für den größten Teil der Welt kein veritables Angebot, diese auch zu verwirklichen. Im Gegenteil wurden die Versprechen missbraucht um die eigene imperiale Lebensweise zu verteidigen und durchzusetzen. Es klafft eine enorme Lücke zwischen dem Versprechen der Menschenrechte und der individuellen Lebensrealität. Dennoch sind die Menschenrechte, die weltweit bedroht werden, unbedingt zu verteidigen, denn sie sind der Rahmen, der uns befähigt, die Freiheit und Gleichheit aller zu fordern.

Leider hat der Westen die universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen so häufig gebrochen und diese Brüche bis heute beschönigt (z.B. den Irak-Krieg), dass er selbst völlig unglaubwürdig geworden ist, wenn er die Verletzung dieser Normen durch andere Staaten kritisiert.
 
Außerdem hat der Westen die Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in vielen Ländern des Globalen Südens massiv behindert. Erfolge auf diesem Gebiet (etwa wenn in China heute die ausreichende Versorgung von 1,4 Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser gesichert ist), werden vom Westen nicht ausreichend gewürdigt als menschenrechtliche Errungenschaften.

Die Länder des Globalen Südens verbindet vor allem die Forderung nach einer Neuordnung der globalen Institutionen, die ihnen eine gerechtere politische Repräsentation erlauben würde. Für diese Länder ist außerdem die erwähnte Kritik an doppelten Standards des Westens wichtig, die Solidarität gegen westliche Bevormundung und das Bestehen darauf, entsprechend den eigenen Interessen zu handeln und nicht gemäß westlichen Leitlinien. Die meisten Länder des Globalen Südens haben sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen, weil sie das Verhalten des Westens – auch im Ukraine-Krieg – als Versuch der Beibehaltung westlicher Dominanz werten.

Die Länder Afrikas sind Teil des Globalen Südens. Die Lehre aus den Putschen im Sahel lautet: Um Partner der Staaten und ihrer Menschen in Westafrika zu bleiben, muss der Westen etwas grundsätzlich ändern. Will er künftig als Partner in Afrika wahrgenommen werden, dem es um die Interessen der Menschen geht und nicht nur um den Zugang zu Rohstoffen, die Stationierung von Soldaten und die Abwehr von Geflüchteten, dann hat er nur eine Wahl: Er muss dieser Partner werden. Das erfordert die Bereitschaft, mit Frankreich und seinen häufig neokolonialen Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien in den Konflikt zu gehen.

Geopolitisch ist die wiederkehrende multipolare Welt derjenigen von 1848 viel ähnlicher als jener der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Länder des Globalen Südens rütteln wie erwähnt an der für den Westen bislang vorteilhaften Weltordnung.

Das mächtigste Land des Globalen Südens ist für uns von besonderer Bedeutung: China. Das sollte uns nicht davon abhalten, die chinesische Zivilgesellschaft zu unterstützen bei Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung in Xinjiang und Hongkong und bei der Verteidigung der Freiheit in Taiwan.

Die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten USA und China haben sich stark verschlechtert, so dass dieses Verhältnis das gefährlichste in diesem Jahrzehnt ist. Es drohen ein kalter oder heißer Krieg. Einen Lösungsweg zeigt der ehemalige australische Regierungschef und Außenminister Kevin Rudd in seinem dieses Jahr auf Deutsch erschienenen Buch „Der Vermeidbare Krieg“.
 
Als ersten Schritt sollten China und der Westen an ihrer gegenseitigen Wahrnehmung arbeiten, welche roten Linien der anderen Seite sie nicht überschreiten dürfen.

Es geht darum, die Rivalität so zu kanalisieren, dass ein Krieg vermieden wird. Nötig dafür ist ein gemeinsames Rahmenwerk mit Leitplanken für einen kontrollierten strategischen Wettbewerb, innerhalb dessen beide Seiten ihre Kerninteressen verfolgen. Das Rahmenwerk bestünde aus diesen drei Schritten, die miteinander zusammenhängen:

Erstens eine Vereinbarung über den Umgang mit den jeweiligen strategischen roten Linien (beispielsweise über Taiwan). Wer sie überschreitet, riskiert massive Gegenmaßnahmen.

Zweitens eine gemeinsame Benennung der weniger gefährlichen Gebiete der Sicherheitspolitik, in denen strategischer Wettbewerb als völlig normal akzeptiert wird. Das sind die Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, die technologische Entwicklung (zum Beispiel über Halbleiter) und die Ideologie.

Der dritte Schritt ist eine strategische Kooperation auf Gebieten wie dem Klimaschutz. Eine solche Zusammenarbeit wäre auch wichtig zum Abbau der derzeitigen Spannungen.
 

Zum ersten und friedenspolitisch wichtigsten Schritt, den roten Linien: Der gesamte Westen würde zurückkehren zur strikten Einhaltung der Ein-China-Politik und insbesondere auf provokante und unnötige hochrangige Besuche in Taiwan verzichten (im Falle Deutschlands etwa des Besuchs der FDP-Bundestagsabgeordneten um Frau Strack-Zimmermann im Januar). Dies würde den Verzicht auf eine direkte militärische Zusammenarbeit mit Taiwan einschließen. Das wichtigste Ziel wäre, den strategischen Status Quo über Taiwan zu bewahren, der seit fünfzig Jahren Bestand hat.
 
China würde seinerseits seine provokanten militärischen Übungen, Überflüge und Manöver in der Taiwanstraße zurückfahren. Im Südchinesischen Meer würde China darauf verzichten, weitere Inseln zu beanspruchen oder zu militarisieren und seine territorialen Forderungen gegen die Philippinen als einzigen dortigen US-Alliierten militärisch durchzusetzen. Es würde sich verpflichten, die volle Freiheit der Schifffahrt und Überflüge zu respektieren. Daraufhin würde der Westen seine Operationen in diesem Gebiet verringern. Deutschland würde nicht mehr an Manövern wie im vorletzten Herbst teilnehmen.
 
Das Ziel wäre eine klare Vorstellung, was die roten Linien der jeweils anderen Seite auf diesen vier Gebieten sind und die Klarheit, dass bei einem Überschreiten dieser roten Linien massive Gegenmaßnahmen ergriffen würden.
 
Der Konflikt zwischen China und Deutschland spielt sich auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet ab. Eine Kabinettsvorlage der Bundesregierung sieht den vollständigen Rückbau der chinesischen Bauteile aus dem deutschen 5G-Netz bis 2026 vor. Gibt uns das mehr Sicherheit? Das ist fraglich, wenn wir die Unsicherheit betrachten, die durch diesen Rückbau zusätzlich im Verhältnis zu China entsteht. Denn dieser Rückbau würde den Konflikt ähnlich verschärfen, wie der Bann der USA gegen die Lieferung von Hochtechnologiechips an chinesische Firmen. Dieser trifft auch Lieferanten aus Deutschland. Deshalb begrüße ich es, dass das Digitalministerium sich gegen die 5G-Kabinettsvorlage wehrt.

Deutschland und Europa sollten sich nicht an einer Strategie der Eindämmung, sondern der Einbindung Chinas und des gegenseitigen Respekts beteiligen, was offene Kritik und Druck nicht ausschließt. Sie sollten sich als friedenspolitisch orientierte Mächte positionieren und eine Vermittlerrolle zwischen Washington und Beijing wahrnehmen, so wie die Liberalen 1848 vermitteln wollten: Sie versuchten, möglichst viele Interessen miteinander in Kontakt zu bringen und auszugleichen. Diese Verpflichtung zur Vermittlung, zu Verhandlungen und zum Ausgleich von Interessen bleibt nach wie vor unentbehrlich, gerade in der deutschen Außenpolitik.

Es ist leichtfertig, wie Chinas mögliche Rolle abgetan wird beim Weg zu Friedensverhandlungen in der Ukraine. Neben Indien, Indonesien und Brasilien könnte es auf Russland einwirken und später Polizist:innen oder Blauhelmsoldat:innen stellen zur Absicherung eines Friedensplans einschließlich Referenden unter UN-Aufsicht im Donbass und auf der Krim. Russische Soldaten würden nicht auf chinesische schießen.
 
Diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine kommen vor allem von den Ländern des Globalen Südens. Die Bundesregierung hingegen investiert kaum Energie in das Zustandekommen solcher Verhandlungen, sondern führt die allermeisten Gespräche mit dem – bislang vergeblichen – Ziel, Druck auf Russland aufzubauen.

Hunderttausende sind schon in diesem Krieg gestorben. Es dürfen ihm nicht weitere Abertausende zum Opfer fallen! Nötig sind massive internationale diplomatische Kraftanstrengungen auch der Bundesregierung, natürlich in Absprache mit der Ukraine, zu einem Waffenstillstand und anschließenden Verhandlungen. Nur so findet das Elend der Menschen in der Ukraine ein Ende.
 
Sie merken, ich widme den letzten Teil meines Vortrags Lösungswegen für die beiden derzeit für uns wichtigsten Kriege. Denn das erste Menschenrecht ist jenes auf körperliche Unversehrtheit. Dieses lässt sich nicht herbeibomben.

 
Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Entsprechend hat die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen letztes Jahr sofort den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt und fordert seitdem den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert und zum Stillstand gekommen. Weder Russland noch die Ukraine haben eine realistische Chance, diesen Krieg zu gewinnen, in dem es nur Verlierer geben kann. Die Lösung auf dem Schlachtfeld zu suchen, ist keine verantwortungsvolle Alternative. Zudem erhöht sich laut Jürgen Habermas mit jedem Tag, an dem Verhandlungen nicht eingeleitet werden, die Gefahr eines Kapitulationsfriedens der Ukraine, oder – um diesen abzuwenden – einer noch stärkeren, direkten Kriegsbeteiligung der Nato. Es ist zu befürchten, dass diese sich zu einem dritten Weltkrieg ausweiten würde, der wahrscheinlich ein atomarer wäre.

Wichtig sind nicht-militärische Beiträge zur Schwächung der zermalmenden Gewalt dieses Krieges, um wieder mit Habermas zu sprechen.  Das sind humanitäre Visa und Asyl für alle Kriegsdienstverweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure aus den beteiligten Ländern – hier setzt Europa seine Versprechen nicht um -, sowie ziviler Widerstand.

Dazu zählt die Plakataktion der Mitarbeiterin des russischen Staatsfernsehens am 14. März letzten Jahres. Dazu zählen auch die 235 gewaltfreien Aktionen in der Ukraine zwischen dem 24. Februar und dem 30. Juni. Ukrainer:innen in den besetzten Gebieten haben russische Flaggen abgehängt, Kundgebungen durchgeführt und Verkehrsschilder manipuliert. Lehrer:innen, Schulleiter, Bürgermeister, andere Beamt:innen sowie Mitarbeiter:innen in Fernsehen und Rundfunk haben sich geweigert, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Medizinisches Personal, Arbeiter und Unternehmer haben Steuerzahlungen oder öffentliche Arbeiten abgelehnt.

Das ist eine bemerkenswerte Bilanz. Sie zeigt, welches um so größere Potential in der Ukraine für einen zivilen Widerstand gegeben gewesen wäre, wenn man ihn von Anfang an vorbereitet und darauf gesetzt hätte. Das nennt man soziale Verteidigung.

Diese sollte bei uns eingeführt werden. Sie wäre eine deutlich effektivere und kostengünstigere Alternative als das Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung. Wir sollten nicht den weltweit drittgrößten Rüstungsetat haben wollen, auf den dieses Programm hinausläuft.
 

In Sachen Nahost-Krieg haben sich die Länder des Globalen Südens ein zweites Mal nicht dem Westen angeschlossen – nach der Ukraine. Man hat das Gefühl, dass dem Westen die Leben der Palästinenser weniger wichtig seien – und dass Menschenrechte und moralische Werte offenbar nicht für alle gelten. Deutschlands Parteinahme für Israel hat viel Distanz zu diesen Ländern geschaffen und eine Vermittlerrolle unseres Landes deutlich erschwert.

Das menschenverachtende, verbrecherische Massaker und die Geiselnahme der Hamas in Israel waren furchtbar und durch nichts zu rechtfertigen. Seit der Shoah wurden noch nie so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet. Alle Opfer der Gewalt in Israel sollten unser tiefes Mitgefühl haben.
Das gilt ebenso für die unzähligen Opfer der Gewalt und der humanitären Katastrophe im Gaza-Streifen. Dort wurde die bislang größte Anzahl von Kindern und UN-Mitarbeitern in einem bewaffneten Konflikt dieser Länge getötet. Hilft es Israel, wenn Tausende von Kindern getötet werden?

Stimmt es, dass Israel nicht verantwortlich sei für die Toten, sondern die Hamas bzw. im Falle des anderen Krieges Russland? Nein, jede Seite ist für die Folgen ihres Handelns verantwortlich.

Gaza ist zu einem der gefährlichsten Orte der Welt geworden laut Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen. So ist Gaza eine Brutstätte des Terrorismus. Eine ganze Generation läuft dort Gefahr, sich aufgrund dieses Krieges zu radikalisieren.

Selbst US-Präsident Joe Biden warnt Israel davor, den verhängnisvollen Fehler der USA nach den Terror-Angriffen vom 11. September 2001 zu wiederholen, bei seiner Verteidigung mit unverhältnismäßiger Gewalt zu reagieren.

Der 2001 von den USA ausgerufene Krieg gegen den Terror hat weltweit zu mehreren Millionen Toten geführt.

Human Rights Watch fordert einen Stopp der militärischen Unterstützung und Waffenlieferungen an Israel, an die Hamas und den Islamischen Dschihad wegen des großen Risikos, dass diese Waffen für Kriegsverbrechen gegen Zivilisten verwendet werden. Es fordert namentlich die USA, Großbritannien, Kanada und Deutschland zum Stopp der militärischen Unterstützung Israels auf, und den Iran zum Stopp der Bewaffnung der Hamas und des Islamischen Dschihad.

Als Deutsche sind wir mit dem Trauma der Gewalt im Nahen Osten verbunden.
Wir werden unserer historischen Verantwortung für dieses Trauma gerecht, wenn wir gegenüber allen Beteiligten eindeutig für den Stopp und die Überwindung der Gewalt eintreten.

Die Gewaltverbrechen der Hamas lassen sich nur durch eine gemeinsame regionale Bekämpfung verbrecherischer Gewalt unter Beteiligung der arabischen Staaten überwinden. Das hat auch der ehemalige israelische Geheimdienstchef Yuval Diskin als einzigen Weg raus aus dem Konflikt bezeichnet.

Ein nachhaltiges Engagement der arabischen Staaten für die Sicherheit Israels und eine nachhaltige Überwindung der verbrecherischen Gewalt der Hamas ist nur möglich in Verbindung mit einer glaubwürdigen Perspektive für die Selbstbestimmung der Palästinenser:innen, konkret die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und einen eigenen Staat. Das würde Israel Sicherheit geben und dem Terror den Nährboden entziehen.

Deutschland sollte daher seine Kraft für den sofortigen und nachhaltigen Stopp der Gewalt auf beiden Seiten und die Gründung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten einsetzen. Bis dahin sollten sich alle Seiten auf konkrete Schritte zur Deeskalation des Konflikts konzentrieren, wie es bei den ersten Freilassungen von Geiseln gelungen ist. Der erwähnte ehemalige israelische Geheimdienstchef fordert, dass die Rückholung der Geiseln Israels Priorität wird, wichtiger als das Ziel, die Hamas zu zerstören. Nur so könne der israelische Staat das Vertrauen seiner Bürger zurückerlangen.
 
Demgegenüber eskaliert der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu den Krieg in verantwortungsloser Weise und spricht davon, dass die Kämpfe noch monatelang anhalten könnten. Er ist dabei, die moralische Überlegenheit des Terroropfers Israel zu verspielen.
Bezüglich der Perspektive nach dem Krieg will er Gaza nicht besetzen oder verwalten, aber auch keine Rückkehr der Palästinenserbehörde. Was dann?
 
Die Situation in beiden Kriegen scheint ausweglos zu sein, aber wir wären schlecht beraten, die Hoffnung aufzugeben und uns nicht für Lösungen einzusetzen. Es hilft, in längeren Zeiträumen zu denken: Die Entspannungspolitik mit ihrer Aussöhnung Deutschlands mit Russland wurde erst Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzt, gegen den Widerstand der CDU/CSU. Und der Palästinenser Bassam Aramin hat im Spiegel-Gespräch mit einem befreundeten Israeli diese bemerkenswerten Sätze gesagt:

"Die Israelis haben nicht sechs Millionen Palästinenser getötet, und die Palästinenser haben, anders als die Deutschen, nicht sechs Millionen Juden ermordet. Und trotzdem sind Israel und Deutschland heute befreundete Nationen, es gibt einen deutschen Botschafter in Tel Aviv und einen israelischen Botschafter in Berlin. Wir Israelis und Palästinenser können es also auch schaffen. Alles, was wir dazu brauchen, sind mutige Anführer, die uns entschlossen vom Grauen und vom Schmerz der Vergangenheit wegführen."

Um Kriege zu beenden, sollte man versuchen, Frieden zu schließen - auch mit Menschen, die die eigenen Leute bestialisch umgebracht haben. Wer Frieden nur mit Freunden schließen will, wird nie welchen bekommen. Verhandlungen für Waffenstillstände und politische Lösungen nach den erfolgreichen Vorbildern Kolumbiens und Nordirlands sind alternativlos. Yitzhak Rabin sagte in seiner Rede zur Annahme des Friedensnobelpreises 1994, dass es nur eine radikale Methode gäbe, um Menschenleben zu schützen und Sicherheit zu bekommen. Diese radikale Methode sei nicht Rüstung, sondern Frieden. Den Frieden muss man wollen.

Ich komme zum Schluss mit dem Plädoyer, dass Zivile Konfliktprävention, also bevor das jeweilige Kind in den Brunnen fällt, zur Leitlinie unserer Außenpolitik werden muss.

Präsident Putin hat 2021 und 2022 vor dem Angriff auf die Ukraine gefordert, über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhandeln. Das hat das westliche Staatenbündnis in seiner militärischen Blocklogik rundweg abgelehnt.

Wie wäre die Reaktion der USA, wenn in ähnlicher Weise Mexiko, angrenzend an den USA in ein Militärbündnis mit Russland oder China eintreten wollte?
 
Auch der Nahostkrieg hätte verhindert werden können. Die israelische Armee war mehr als ein Jahr zuvor in den Besitz des Masterplans der Hamas für den Angriff gelangt. Die Hamas wollte den Krieg, und Israel hat es nicht gesehen, wegen des Hochmuts der Armeeführung und der Nachrichtendienste: Sie vertrauten auf die militärische Überlegenheit und den Einsatz von Hightech und unterschätzten somit die Möglichkeiten der Hamas. Außerdem hat Israels Regierung 70% aller Soldaten zum Schutz der Siedler im Westjordanland abgestellt und wollte sich nicht mit Gaza und der Frage eines Palästinenserstaates abgeben.

Die derzeitigen Kriege sind der beste Beleg dafür, dass der militärische Weg furchtbar ist. Es gilt, die Anwendung militärischer Gewalt zu vermeiden, denn diese hat in den letzten Jahrzehnten nicht einmal eine politische Lösung herbeigeführt. Carl Friedrich von Weizsäcker dürfte sich in seiner Aussage zur Gewaltspirale bestätigt fühlen, ich zitiere:

„Man kann zwar Gewalt durch Gewalt eindämmen, man wird aber immer die Folgen zu tragen haben, dass man sich dem Prinzip, das man bekämpfte, unterworfen hat...Die Meinung..., man könne gewissermaßen zum letzten Mal Gewalt anwenden und – weil die Gewalt für das Gute ausgeübt wird – danach werde dann das Gute herrschen und nicht die Gewalt, ist einer der gefährlichsten Irrtümer und eine der Hauptquellen mörderischer Kriege.“

Vielen Dank für Ihre und eure Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf Ihre Fragen und Diskussionsbeiträge.

 

Vortrag
Demokratie und Menschenrechte 1848 und heute
von Thomas Carl Schwoerer
NEU-ISENBURG, Sonntag, 17. Dezember 2023

16 Uhr im Haus zum Löwen, Löwengasse 24

Bürgermeister Dirk Gene Hagelstein begrüßte als Mayor for Peace zum Vortrag.
Die Mayors for Peace ist eine  internationale Organisation von Städten, die sich der Friedensarbeit, insbesondere der atomaren Abrüstung, verschrieben haben. Rund 845 Städte haben sich in Deutschland dem Bündnis angeschlossen.

Veranstaltungsankündigung:

Krieg in der Ukraine, Krieg in Nahost und die Überzeugung, mit Waffen Frieden und Sicherheit zu schaffen? Ein Erstarken des Rechtspopulismus in Europa und Wahlgewinne der AfD? Ist eine neue, ungute Zeit angebrochen, in der Menschenrechte, Menschenwürde und die hart errungenen demokratischen Werte verlorengehen?

Ein Blick zurück auf die Ereignisse, die zur Gründung eines deutschen Nationalstaates und der Verfassung von 1848 geführt haben und die uns lehren, wie wichtig Freiheit und Vielfalt für unsere heutige Gesellschaft ist, tut not.

Der langjährige Verleger des Campus Verlags Thomas Carl Schwoerer, Bundessprecher der traditionsreichen Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen und aktiv im Neu-Isenburger Gesprächskreis für Frieden und Demokratie, schildert 1848 als die einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte. Er beschreibt ihre längerfristigen Folgen und ihre Parallelen zu unserer heutigen Zeit – wie etwa Gefühle der Unruhe und des bedrohlichen Wandels. Emotionen und Stimmungen spielten damals wie heute eine zentrale Rolle.

Geopolitisch ist die wiederkehrende multipolare Welt derjenigen von 1848 viel ähnlicher als jener der Ära nach 1945. Die Länder des globalen Südens rütteln außerdem an der für den Westen bislang vorteilhaften Weltordnung. Die Menschenrechte als universelle Normen sind dabei wichtiger denn je. Wird die „wertebasierte“ deutsche Außenpolitik dem gerecht? Diese sollte sich leiten lassen von der Verpflichtung zur Vermittlung, zu Verhandlungen und zum Ausgleich, ähnlich wie es die Liberalen 1848 taten.

Am 3. Advent erinnert der Vortrag an das Versprechen von Weihnachten: Die Erlösung aus der Not, das Fest der Liebe, Friede auf Erden und eine universelle Botschaft, die sich klar gegen Anfeindungen von Fremden und Flüchtlingen wendet.

Im Anschluss an den Vortrag besteht die Möglichkeit zur Diskussion.

Letztes Update: 21.12.2023, 15:09 Uhr