Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen Landesverband Hessen

Thomas Carl Schwoerer,
Bundessprecher der DFG-VK und Landessprecher der DFG-VK Hessen:

Rede beim Ostermarsch in Marburg 2022

Ostermontag 18.4.2022

Liebe Freundinnen und Freunde,

Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Entsprechend hat die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen sofort den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt. Wir verurteilen den Einsatz von Streumunition sowie den Beschuss mehrerer Städte. Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand und den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Kanzler Scholz hat eine massive Aufrüstung angekündigt. Sie nützt der Ukraine nichts. Und selbst im Rahmen einer militärischen Abschreckungslogik sind die 100 Milliarden Euro nicht annähernd nachvollziehbar. Denn eine weitere Aufrüstung der osteuropäischen Nato-Staaten kostet niemals eine solche Summe.

Angesichts des bisherigen riesigen Militäretats kann nicht die Rede davon sein, dass die Bundeswehr „kaputtgespart“ wurde. Die Hochrüstung – ein Plus von 58 Prozent in den letzten zehn Jahren auf gut 50 Milliarden Euro - hat uns keine Sicherheit gebracht: Der Etat aller NATO-Staaten zusammen ist schon heute 16-Mal höher als der Russlands. Das hat die russischen Streitkräfte nicht weniger gefährlich gemacht.
Diese 100 Milliarden sind nicht „Sicherheit neu denken“, sondern altes Denken, um mit Gorbatschow und den 125.000 Teilnehmenden an den Großdemos des 13. März zu sprechen. Militärische Scheinlösungen haben in Afghanistan, Mali, Libyen und gegen den Terror versagt. Friedenspolitik und Politischer Pazifismus sind realistischer und weniger naiv als die sogenannte „Realpolitik“.

Die 100 Milliarden wären viel besser in den Klimaschutz, die weltweite Pandemiebekämpfung und andere Herausforderungen wie Bildung für die junge Generation investiert, statt für volkswirtschaftlich unproduktive Ausgaben verschwendet zu werden.

170.000 haben am 10. März an den Friedensdemos von Fridays for Future teilgenommen. Im Rahmen dessen haben Schüler:innen und Studierende geschrieben: "Wenn wie geplant jedes Jahr mehr als 2% in die Bundeswehr fließen, sind wir bald die drittgrößte Militärmacht, vor Russland. Wir wollen nicht in einer Welt voller Waffen leben, sondern in einer Zukunft ohne Krieg, Klimakrise, Armut und Hunger.“

Ich frage euch: Wollen wir uns der Logik des Wettrüstens unterwerfen und die drittgrößte Militärmacht werden?
Was die Waffenlieferungen an die Ukraine anbetrifft, sind sie zwar als solidarische Tat gemeint, die Zeit kauft, damit die Sanktionen gegen Russland greifen und eine Verhandlungslösung wahrscheinlicher wird. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass Waffenlieferungen den Krieg in die Länge ziehen und dieser mit zunehmender Dauer immer brutaler wird. Und worin soll die Unterstützung bestehen, wenn Rheinmetall freudig verkündet, seine Panzer könnten in sechs Wochen in der Ukraine sein, aber eine entscheidende Schlacht im Donbass für die nächsten Tage vorhergesagt wird? Das hat Kanzler Scholz wohl gemeint, als er im Gegensatz zur Außenministerin vor Lobbyinteressen gewarnt hat.

Wieso hat die alte Bundesregierung wenige Tage vor Antritt der Ampel militärisch verwendbare Lastwagen an Russland in einem Umfang geliefert, der die Waffenlieferungen an die Ukraine in den Schatten stellt? Zudem landen Rüstungsexporte erfahrungsgemäß in den falschen Händen: Waffen an die kurdischen Peschmerga gelangten an den Islamischen Staat. Waffen an Libyen landeten in Mali. Und Waffen an die Ukraine werden mittelfristig leider an kriminellen Gangs oder aggressive Nationalisten auch in Russland gelangen.

Außerdem sind die Lieferungen an die Ukraine ein Präzedenzfall für zukünftige Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisenregionen – und das in einem Jahr, in dem die Ampel ein restriktives Rüstungsexportkontrollgesetz vorlegen will. Ein Gesetz, das Waffenlieferungen etwa in den Jemen verbietet.

Was sind die Alternativen? Ein Öl- und Gasembargo würde den Ukraine-Krieg schneller beenden als Waffenlieferungen. Sanktionen sind politisch alternativlos, wenn wir militärische Maßnahmen ablehnen. EU-Ratspräsident Charles Michel hat als weiteren Beitrag zur Kriegs-Beendigung insbesondere russische Soldaten zur Desertion aufgerufen.

50 deutsche Organisationen fordern darüber hinaus Asyl und positive Anreize für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Belarus und der Ukraine.

Zum wichtigen zivilen Widerstand zählt die Plakataktion der Mitarbeiterin des russischen Staatsfernsehens am 14. März, und dass sich unbewaffnete Ukrainer:innen vor russische Panzer stellen. Andere drehen Straßenschilder um und führen russische Soldaten so in die Irre.

Prävention ist die beste Therapie. Deshalb fordert „Sicherheit neu denken“, jährlich 10% der zusätzlichen Militärausgaben umzuschichten auf zivile Konfliktbearbeitung und Krisenprävention - etwa zur Stärkung der zivilen Friedensfachkräfte und Polizeimissionen im Ausland sowie der sozialen Verteidigung im Inland. Letzteres geschieht in Litauen.

Vor allem kommt es zur Beendigung des großen Leids der Ukrainer:innen auf diplomatische Lösungen an. Es führt – leider – kein Weg vorbei an Verhandlungen mit Präsident Putin. Die von ihm zu verantwortenden Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo dürfen dabei kein Hindernis sein. Auch mit Terroristen wie der IRA in Nordirland und der FARC in Kolumbien wurden Verhandlungen trotz ihrer brutalen Taten erfolgreich abgeschlossen.

Es gibt eine große Hilflosigkeit und Angst in der Gesellschaft, auch unter Kindern und in Pflegeheimen. Dagegen hilft Orientierung:

Hat die Diplomatie ihre Grenzen erreicht? Nein, die Möglichkeiten der Diplomatie wurden nicht ausgereizt. Wenn es klar war, dass Putin plante, in die Ukraine einzumarschieren (wie es die US-Geheimdienste vorhergesagt hatten): Warum war es dann für den Westen unmöglich, Putins oft wiederholter Hauptforderung zuzustimmen: einer Garantie, dass die Nato nicht die Ukraine aufnimmt? Laut Wall Street Journal von vor zwei Wochen hat Kanzler Scholz kurz vor Ausbruch des Krieges versucht, Präsident Selenskyj zur Aufgabe seiner NATO-Ambitionen zu bewegen - und ist tragischerweise damit gescheitert. Die NATO hätte einen Beitritt ausschließen sollen, konnte aber ebenso wenig über ihren Schatten springen wie Selenskyj selbst. Nicht die Friedensbewegung, sondern die NATO ist kläglich mit ihrem bisherigen Ansatz gescheitert, diesen Krieg zu verhindern.

Das ließe sich revidieren, indem die Nato Präsident Selenskyjs Angebot der Neutralität der Ukraine in Verbindung mit internationalen Sicherheitsgarantien unterstützt und einen Nato-Beitritt ausschließt.
Wir müssen also einen Reset finden, um mit Alexander Kluge zu sprechen: zurücksetzen an den Anfang der Konfrontation und den Punkt finden, der für beide Seiten eine Verständigung ermöglicht. Denn der Krieg ist gefährlich wie ein wildes Tier, das unweigerlich zubeißt, wenn man sich ihm nähert. Sieger ist nicht, so Kluge, wer die Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer einen Frieden herstellt.

Als Beitrag zur Deeskalation sollte die EU Präsident Putin Verhandlungen vorschlagen über einen einheitlichen Wirtschaftsraum der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion vom Atlantik bis zum Pazifik. Den Wunsch danach hat er im Juni letzten Jahres öffentlich vorgetragen.

Das alles rechtfertigt nicht den brutalen russischen Einmarsch und dass sich Präsident Putin äußerst brutal zu nehmen versucht, was er vorher gefordert hat. Das Vertrauen zu Putin steht auf einem Tiefpunkt, seine Glaubwürdigkeit hat massiv gelitten. Gerade deshalb würden Abrüstungsverhandlungen eine Chance darstellen: Schon im Kalten Krieg gelang es, durch Abrüstungsverhandlungen in kleinen Schritten Vertrauen aufzubauen. Verhandlungen etwa über ein Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa wären sinnvoller als teure Raketenabwehrsysteme und dringend geboten. Denn die Zeit zwischen Abschuss und Einschlag dieser Raketen beträgt nur wenige Minuten, so dass sie kaum aufzuhalten sind.

Wir denken zuweilen an Parallelen zum Spanischen Bürgerkrieg. Aber wir leben nicht mehr in den 1930er Jahren, sondern in einem Zeitalter, in dem konventionelle Waffen mit viel größerer Zerstörungskraft als damals schnell ganze Städte dem Erdboden gleich machen – von einem möglichen Einsatz von Atomwaffen ganz zu schweigen.

Wir haben sofort Präsident Putins Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen verurteilt. Er hat diese Drohung kürzlich wiederholt für den Fall, dass der Ukraine „besonders heikle“ Waffen wie Mehrfachraketenwerfer geliefert werden. Diese Drohungen erschüttern abermals den Glauben, dass die gegenseitige Abschreckung mit Atomwaffen die Welt sicherer macht. Wir sind höchst verwundbar, solange diese Massenvernichtungswaffen existieren. Es ist naiv, an ihnen festzuhalten. Sicher sind wir erst, wenn alle Staaten, auch die Atommächte, den UN-Atomwaffenverbotsvertrag unterschreiben.

Oft wird gesagt, die Ukraine hätte ihre Atomwaffen behalten sollen, statt sie 1994 abzugeben. Selten wird erwähnt, dass sie nie die Kontrolle über diese Atomwaffen hatte.

Ich komme zum Schluss. Es gibt mehrere Anlässe zur Hoffnung: 1,5 Millionen Menschen haben die Petition der russischen Antikriegsbewegung unterzeichnet. Auch 230 Priester der russisch-orthodoxen Kirche haben einen guten Appell unterschrieben. Der russische Regierungssprecher sprach von einem Viertel der Bevölkerung, die gegen diesen Krieg seien, was wohl untertrieben ist. Je mehr Zinksärge mit toten russischen Soldaten nach Hause kommen, desto mehr dürfte die Opposition wachsen. Sie und die ukrainische Friedensbewegung gilt es zu unterstützen, auch Einzelpersonen wie den Chefredakteur der Nowaja Gaseta und die russische Kriegsdienstverweigerer-Organisation OVD, denen wir unsere Solidarität versichert haben. Ermutigend ist außerdem, dass die russische Regierung international nahezu vollständig geächtet ist.
Beeindruckend ist zu guter Letzt die Solidarität hierzulande mit Geflüchteten.

Vielen Dank für eure Langmut und Teilnahme am Ostermarsch.

Letztes Update: 17.04.2022, 12:56 Uhr